Prolog: Xuanzang und das Yogacara

Vor ungefähr 1400 Jahren, im 6. Jahrhundert n. Chr., lebte in China (das damals noch nicht China hieß, sondern „Da Tang“) ein junger, sehr begabter Mönch namens Xuanzang (sprich: Hsüan-Tsang), der mit Hingabe die Schriften des Buddhismus studierte. 

Schon bald fiel ihm auf, dass es zahlreiche Lücken und Widersprüche in den Texten gab, da damals viele Sutren und Erläuterungen noch nicht nach China gelangt waren; die chinesischen Buddhisten stritten sich deshalb hin und her über die „richtige“ Interpretation diverser Kernkonzepte. Für Xuanzang war dies ein unhaltbarer Zustand und deshalb war ihm klar: Er musste nach Indien reisen, um dort das „Yogacarabhumi-Sastra“ zu studieren, eine umfassende und als sehr anspruchsvoll geltende Schrift, die die Grundlagen des Buddhismus im Detail erläutert. 

Das Problem dabei war, dass der Kaiser per Dekret Ausreisen aus Da Tang verboten hatte, da man sich gerade in Konflikt mit einigen benachbarten Regionen befand. Xuanzang stellte drei Mal einen Antrag auf Sondergenehmigung (ja, schon im 6. Jahrhundert hatte die Menschheit die Bürokratie erfunden!), der aber jedes Mal abgelehnt wurde. Xuanzang gab jedoch nicht auf und schmuggelte sich heimlich inmitten einer Gruppe Flüchtlinge hinaus aus der Stadt Chang`An (dem heutigen Xi`an) und schließlich über die Landesgrenze. Alleine und unter großen Strapazen machte er sich auf den Weg durch die Wüste Gobi bis nach Indien. 

Es ist eine schier unglaubliche, aber dennoch wahre und historisch belegte Geschichte: Xuanzang schaffte es nach mehreren Jahren unterwegs, einer Gefangenschaft und mehrmals unter Lebensgefahr, das berühmte Kloster Nalanda in Indien zu erreichen und der dortige Großmeister Silabadhra der Ältere unterrichtete ihn mehrere Jahre lang in der Philosophie des Yogacara. Xuanzang war so begabt, dass er nach kurzer Zeit in ganz Indien berühmt war und zahlreiche Debattier-Wettbewerbe gewann (was mich daran besonders beeindruckt, ist, dass er all diese ja in einer Fremdsprache bestritt; sein Sanskrit muss unglaublich gut gewesen sein, um über komplexe philosophische Themen diskutieren zu können!).   

Als er schließlich spürte, dass es Zeit war, nach Da Tang zurückzukehren, schrieb er dem Kaiser einen Brief, in dem er um Entschuldigung für die unerlaubte Ausreise bat und erklärte, dass er nun in der Lage sei, zahlreiche buddhistische Schriften zu lehren und von Sanskrit auf Chinesisch zu übersetzen. Der Kaiser, selbst gläubiger Buddhist, begnadigte ihn daraufhin und erlaubte ihm, heimzukehren. Der indische König, auf dessen Gebiet Xuanzang sich aufhielt und der von der Weisheit des Mönchs überaus beeindruckt war, stattete Xuanzang für die Heimreise mit Elefanten, Proviant und einem Gefolge aus Trägern aus, um die große Menge an Schriftrollen und buddhistischen Artefakten zurück nach Da Tang zu transportieren. 

Xuanzang erreichte seine alte Heimat mit Anfang 40 (aufgebrochen war er in seinen Zwanzigern) und wurde in einer prunkvollen Zeremonie vom Kaiser willkommen geheißen. Im Da Ci En-Tempel in Chang`An (den man heute noch besichtigen kann; er ist als Große Wildganspagode bekannt und eine der Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt Xi`an) wurde ein Übersetzungszentrum eingerichtet, in dem Xuanzang zusammen mit einem Experten-Team eine schier unglaubliche Menge an Sutren ins Chinesische übersetzte. Ihm verdanken wir es, dass heute noch Abschriften vieler wichtiger Schriften verfügbar sind, die im Sanskrit-Original längst verloren gegangen sind. 

Neben seiner Übersetzungsarbeit schrieb Xuanzang jedoch auch selbst: Er verfasste die „Cheng Wei Shi Lun“, eine wichtige Zusammenfassung der Kernthesen des Yogacara-Buddhismus, auf die sich die Artikel auf dieser Webseite stützen. Außerdem schrieb er auch einen detaillierten Reisebericht über seine Zeit im Ausland, wodurch heutige Archäologen wertvolle Einblicke in die Kulturen entlang der Seidenstraße in der damaligen Zeit bekommen konnten. 

Bis zu seinem Tod im Alter von 64 Jahren lehrte Xuanzang das Yogacara, das so gut wie alle anderen buddhistischen Schulen entscheidend beeinflusst hat. Xuanzang ist deshalb heute nicht nur in China, sondern in fast allen asiatischen Ländern bekannt (in Indien unter dem Namen Tripitaka, in Japan unter dem Namen Genjo Sanzo). Es gibt Filme, Romane und TV-Serien über ihn und sein Leben diente als Vorlage für den berühmten Roman „Reise nach Westen“ von Wu Cheng`En. Wer heute nach Xi`an reist, kann im Tempel an der Großen Wildganspagode seine Lebengeschichte als Wandrelief bestaunen; und wer sich auf den Weg nach Guazhou am Rande der Wüste Gobi macht, dem sei auch das dortige Xuanzang-Museum wärmstens empfohlen.