
Wer bis hierher gekommen und alle Artikel über die Natur der Realität, die acht Bewusstseinsebenen, die Unbeständigkeit und das Nicht-Selbst gelesen hat, dem dürfte mittlerweile klar sein, dass Buddhisten im Allgemeinen und Yogacara-Buddhisten im Besonderen nicht viel von „Etiketten“ halten.
Denn Etiketten gaukeln uns vor, dass etwas objektiv und unveränderlich „so ist“. Und dies ist, wie in den vorangegangenen Artikeln ausführlich dargestellt, eine Fehlannahme, die die erste Wurzel des Leides (Unwissenheit/Verblendung) fröhlich sprießen lässt.
Die sprichwörtlichen Scheuklappen, die wir aufgrund der Verzerrung der Realität durch die acht Bewusstseinsarten (siehe entsprechender Artikel) aufhaben sind also gefährlich, weshalb Buddhisten sich unaufhörlich darin üben, sie wieder und wieder und in jedem Moment aufs Neue abzunehmen.
Aus genau diesem Grund war der Buddha ursprünglich auch nicht begeistert von der Idee, seine Reden aufzuschreiben; denn er fürchtete (zu Recht!) dass die Menschen sich dann an einzelne Worte klammern und den eigentlichen Sinn der Botschaft aus den Augen verlieren würden. Er warnt eindringlich davor, Dogmen anzuhaften, denn:
„Sobald ein Mensch im Glauben an eine Doktrin gefangen ist, verliert er seine Freiheit. Wenn er dogmatisch wird, glaubt er, dass seine Doktrin die einzige Wahrheit ist und dass alle anderen Doktrinen Ketzerei sind. Streitigkeiten und Konflikte sind die Folge so einer engen Sichtweise. Sie können sich endlos ausdehnen, wertvolle Zeit vergeuden und manchmal sogar zum Krieg führen. Die Anhaftung an Ansichten ist das größte Hindernis auf dem spirituellen Weg. Wenn man an enge Ansichten gebunden ist, wird man so verstrickt, dass es nicht mehr möglich ist, die Tür der Wahrheit zu öffnen.“
(Frei übersetzt aus Old Path White Clouds: Walking in the Footsteps of the Buddha, von Thich Nath Hanh, Nacherzählung des Gesprächs zwischen dem Wanderer Dighanaka und Gautama Buddha)
Deshalb spricht der Buddha auch so oft vom „Loslassen“; nicht nur von materiellen Begierden, sondern auch von vorgefassten Meinungen, scheinbaren subjektiven „Wahrheiten“, der eigenen Vorstellung von sich selbst, etc. Und das bezieht er ausdrücklich auch auf seine eigene Lehre. Ja, sogar das Dharma soll man in letzter Konsequenz loslassen! Der Buddha erklärt, dass das Dharma wie ein Floß sei, das man verwendet, um über einen Fluß überzusetzen; am anderen Ufer der Erleuchtung angekommen, solle man es jedoch zurücklassen. Denn warum sollte man es noch weiter mit sich herumschleppen, wenn das Ziel schon erreicht ist? Das ist der Grund, weshalb ich eingangs in dem Artikel über liebende Güte geschrieben habe, dass der Buddha seine Lehre meiner Meinung nach wahrscheinlich eher als Methode und weniger als Religion/Philosophie bezeichnet hätte.
Wenn wir auf diese Weise üben, Menschen, Situationen und alle Dinge unvoreingenommen zu sehen, hat das keineswegs Emotionslosigkeit zur Folge – das ist mit „Loslassen“ nicht gemeint. Im Gegenteil, je öfter und konsequenter wir unsere Scheuklappen abnehmen, umso mehr können wir die wahre, innere Schönheit aller Geschöpfe erkennen. Und so ist, wie ich vor mehr als zehn Jahren einmal in meinem chinesischen Tempel-Tagebuch notiert habe, der Zustand der „Leere“ in Wahrheit ein Zustand der „Fülle“ – nämlich von liebender Güte.
Und das ist wie ich finde ein schöner Abschluss dieser Reihe - Danke fürs Lesen :-)