
Gemäß dem Yogacara besteht unser Hauptproblem darin, dass wir eine objektive Realität sehen, wo es in Wirklichkeit keine gibt – denn durch des Zusammenspiel der acht Bewusstseinsarten (siehe vorheriger Artikel) wird die Wirklichkeit in jedem Moment verzerrt und somit subjektiv.
Alles, was unsere Sinne wahrnehmen, wird durch das siebte und achte Bewusstsein verdreht – zum Beispiel, wenn wir eine Situation auf Grund eines früheren Erlebnisses von vornherein als "schlecht" betrachten, obwohl das vielleicht gar nicht nötig wäre. Wir bewerten alles um uns herum basierend auf dem, was wir durch Erfahrungswerte „wissen“ (im Buddhismus spricht man von „Samenkörnern“, die im achten Bewusstsein lagern). Diese Erfahrungen = Samenkörner sind aber natürlich bei jedem Menschen anders. Deshalb lebt jeder von uns in einer eigenen Realität, die sich zwar in einigen Punkten mit der von Anderen überschneiden mag (zum Beispiel, wenn Touristen in einer historischen Altstadt alle ein altes Gebäude vor sich sehen), die aber dennoch nie gleich ist (der eine Tourist wird das verfallene Gebäude malerisch finden, während es dem anderen einfach nur heruntergekommen erscheint).
Selbstreflexion: Fallen dir weitere Alltagsbeispiele für solche verschieden erlebten Realitäten ein?
Das Problem dabei ist, dass wir als Nicht-Erleuchtete fälschlicherweise annehmen, dass unsere jeweilige eigene Realität „wahr“ ist, also objektiv auch für andere gilt. Und so entstehen Konflikte und Frust, wenn andere Menschen die Dinge eben leider nicht so sehen wie wir selbst, bzw. wenn sie unsere Art der Wahrnehmung nicht anerkennen. Und auch wir selbst machen uns das Leben oft unnötig schwer; wenn wir zum Beispiel allzu oft schwarz sehen und überzeugt sind, dass man „eh nichts machen kann“. Das buddhistische Credo, dass Realität von uns selbst in jedem Moment neu erschaffen wird, ist kein Nihilismus, sondern eine positive Botschaft: Denn es bedeutet, dass wir immer die Möglichkeit haben, eine negative Wahrnehmung positiv zu verändern!
Selbstreflexion: Was für „Wahrheiten“ redest du dir manchmal selbst ein, wenn du Stress hast? Reflektiere, warum sie subjektiv sind und keine objektive „Wahrheit“ abbilden.
Vereinfacht gesagt bedeutet das, dass zum Beispiel eine "Kaffeetasse" erst dadurch "existiert", dass ihre physische Form von uns wahrgenommen, benannt und bewertet wird. Das ist der Grund, warum der Yogacara-Buddhismus lehrt, dass alles "Consciousness-Only" (engl.: "Alles nur Bewusstsein") ist: Denn ohne die Verarbeitung durch die acht Bewusstseinsarten könnten wir weder die Kaffeetasse, noch den Kaffee darin "erleben". Daraus folgt, dass es keine dhammas (wörtl.: Phänomene) gibt, die wirklich außerhalb und unabhängig vom Bewusstsein existieren. Alle kognitiven Prozesse basieren auf dem Zusammenspiel der acht Bewusstseinsarten, allerdings gibt es zahlreiche Faktoren, die mit hineinspielen, indem sie mal dieses, mal jenes Bewusstsein fördern, oder hemmen. Die Cheng Wei Shi Lun (eine chinesische Kernschrift des Yogacara) listet insgesamt 100 Faktoren auf, die zusammenwirken und so unser "Erleben" der Welt gestalten. Es ist ein hochkomplexes Modell, das wir hier nicht im Detail ausführen wollen; wenn du jedoch neugierig bist, hier ein kleiner Überblick (Grafik in englischer Sprache):
